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Eine wie keine
Habt ihr euch die Moto Guzzi V100 Mandello einmal genau angeschaut? Ein dermassen fliessendes und eigenständiges Design findet sich heutzutage kaum noch an einem modernen Töff. Wie erfrischend das doch ist! Der längs eingebaute V2 sitzt mittragend und prominent im Zentrum, das Drumherum fügt sich nahtlos und logisch dazu. Immer wieder sticht ein besonders raffiniert gedachtes und gemachtes Detail ins Auge, ich kann mich ob diesen und der piekfeinen Verarbeitung kaum sattsehen. Schon von weitem erkennt man zudem eine Guzzi an ihrem Tagfahrlicht in Form eines Guzzi-Adlers als Teil der Voll-LED-Beleuchtung. Hier wird definitiv weiterhin sorgfältig an der Legende der Marke aus Mandello gearbeitet.
Fast unbeschriebenes Blatt
Natürlich bin ich auf das Erleben dieser kompletten Neuentwicklung – inklusive Motor – zum Zerreissen gespannt und schwinge mein Bein über den Soziussitz. Im Stand und beim Rangieren fühlt sich die V100 kompakt, wertig und eher schwer an, was ich hauptsächlich auf einen relativ hohen Schwerpunkt zurückführe. Denn mit 233 kg vollgetankt trotz Kardanwelle ist sie in der Sporttourer-Klasse auf der leichteren Seite.
Dass ein hoher Schwerpunkt sportlicher Fahrdynamik in keiner Weise hinderlich ist, beweisen zahllose Reiseenduros und vor allem auch Valentino Rossi, welcher den Yamaha MotoGP-Renner nach seinem Wechsel von Honda zu Yamaha als erste Sofortmassnahme etwa 5 cm höher legte und sogleich das erste Saisonrennen gewann. Mit einem derartigen Speed kann zwar weder ich noch die Moto Guzzi mithalten, jedoch funktioniert ihr Fahrwerk schlicht perfekt. Das Fahrverhalten präsentiert sich wunderbar neutral und sehr linientreu, im besten Sinne intuitiv. Niemals finde ich mich damit in einer brenzligen Situation wieder. Ganz im Gegenteil: Weil das Fahrverhalten so transparent ist, lasse ich die Guzzi über die Landstrassen fliegen, dass es eine ungetrübte Freude ist. Da mein Testmotorrad die "S"-Version der V100 ist, profitiere ich ausserdem vom vorzüglichen semiaktiven Öhlins-Fahrwerk. Das feine Ansprechverhalten und glasklare Feedback dieser Federelemente ist wahrlich eine spürbare und erfahrbare Freude und Mehrwert. Ein weiterer grosser Pluspunkt ist die elektronische Einstellbarkeit des Fahrwerks. Ganz nach Geschmack kann die Dämpfung per Knopfdruck von komfortabel bis sportlich straff eingestellt werden, was im Übrigen begeisternd gut funktioniert.
Mit Halali über Land
Ob dem grandiosen Fahrverhalten fahre ich mich in einen regelrechten Kurvenrausch mit knackigen Schräglagen, bei welchen erst sehr spät die Angstnippel an den Fussrasten streifen. Mitverantwortlich für diese Gaudi ist die super Bremsanlage, welche selbstredend über Stahlflexleitungen rundum und Kurven-ABS verfügt. Die Anwendung dieser Stopper ist sehr transparent, denn sie lassen sich mühelos und genau nach den eigenen Wünschen dosieren. Dabei ist die Wirksamkeit ebenso begeisternd. Mehrmals habe ich das Gefühl, dass ich etwas zu spät verzögert habe, und erhöhe den Bremsdruck, was die Guzzi bockstabil mit noch stärkerer Verzögerung quittiert.
Ein neuer Player
Aus den Kurven schiebt mich in der Folge der Guzzi-typisch längs eingebaute, nagelneue 1000-er V2. Natürlich in Verbindung mit einer Kardanwelle, welche erfreulicherweise kaum Reaktionen ins Fahrwerk leitet. Die Gasannahme ist in jedem Fahrmodus sehr sanft und die Leistung perfekt einsetzbar, ein Verdienst der betont linearen Leistungsentfaltung. Was einige vielleicht als etwas langweilig einstufen, erleichtert die Handhabung dieses Aggregats zusätzlich. Die 115 munteren Mustangs werden dabei bei moderaten 8700 U/min bereitgestellt, was auch bedeutet, dass Drehzahlexzesse hier nicht vonnöten sind. Die Lebensäusserungen erweisen sich als sportliches Bollern in einem angenehmen Bariton in gerade noch Tirol-konformer Lautstärke.
So richtig neu
Gleich zu Beginn des Tests bemerke ich allerdings, dass die Schaltung harzt und viel Kraft benötigt. An einem derart modernen Töff so etwas? Meine Ratlosigkeit verfliegt schlagartig beim ersten Tankstopp. Ich kann kaum glauben, was ich da für eine Zahl auf dem Zähler erblicke. Nach Abzug der gefahrenen Kilometer müssen bei Übernahme der Testmaschine bloss rund 50 jungfräuliche Kilometer auf dem Tacho gewesen sein. Mehr als eine Probefahrt des Mechanikers hat diese Guzzi vor mir also nicht erlebt. Das heisst, dass diese V100 S noch nicht eingefahren ist. In all den bisher erwähnten Disziplinen spielt das natürlich keine Rolle, bei Motor und Getriebe allerdings schon. Im Verlauf des Tests über rund 700 km verbessert sich das Getriebe sukzessive. Eine Aussage darüber mag ich so jedoch nicht treffen. Also fahre ich zum Händler und borge mir für 20 Minuten eine identische, aber eingefahrene Test-V100 S mit über 2000 km auf dem Tacho. Deren Getriebe ist so, wie ich es erwartet habe: Die Gangwechsel flutschen, ein Harzen gibt es nicht. Was allerdings auch bei ihr in stark vermindertem Masse immer noch da ist, sind die leicht höheren Bedienkräfte am Schalthebel, vor allem bei Gebrauch des Schaltautomaten.
Extrarunde gefällig?
Abgesehen vom eingefahrenen Motor zeichnet die V100 S vom Händler ein deckungsgleiches positives Bild dieser jüngsten Moto Guzzi: Eine betont spassige Fahrmaschine mit dem vollen elektronischen Ornat an Bord. Alle vier Fahrmodi sind übrigens nach den eigenen Vorlieben personalisierbar in den Sparten elektronische Fahrwerkseinstellung, Motormapping, Traktionskontrolle und der Funktion der seitlichen Winddeflektoren. Letztere können geschwindigkeitsabhängig, immer oder gar nicht aktiviert werden. Zusammen mit der elektrisch verstellbaren Windschutzscheibe ergibt sich ein Windschatten im Rumpfbereich, welcher gerade auch bei Regen oder kälteren Temperaturen einen deutlichen Unterschied ausmacht. Sehr zu begrüssen finde ich, dass weder die Deflektoren noch die Scheibe störende laute Verwirbelungen am Helm verursachen. Das wertet die vollkommen gelungene, dezent sportliche Sitzhaltung auf dem bequemen Sattel zusätzlich auf. So lässt es sich ermüdungsfrei und genussvoll touren, gerne auch ein bisschen länger!
Lukas' Fazit:
Der erste Aufschlag der Moto Guzzi V100 Mandello S sitzt: Mit Fahrwerk, Bremsen, Elektronik, Sitzposition, Zubehör, Ansprechverhalten, Eigenständigkeit und Schönheit trifft Moto Guzzi ins Schwarze. Die neu interpretierten alten Tugenden von Moto Guzzi sind attraktiv und verlangen nach einer Probefahrt. Die V100 ist ein würdiger weiterer Meilenstein in der ruhmreichen Historie von Moto Guzzi. So kann es gerne weitergehen! Ausserdem bin ich gespannt auf weitere zu erwartende Modelle mit dem neuen 1000-er V2.
Retos Fazit:
Die Moto Guzzi V100 Mandello S bringt frischen Wind in das Sporttouring-Segment, das in letzter Zeit - ich will nicht sagen bieder, aber doch ein wenig zu zweckmässig geworden ist. Moto Guzzi hat bewiesen, dass Sportlichkeit, Reise- und Alltagstauglichkeit sowie stilvolles italienisches Design in einem Motorrad vereint werden können. Für mich ist das neue Bike aus Mandello ein ganz heisser Tipp für Tourenfahrer und Tourenfahrerinnen, die gerne ausgedehnte Motorradtouren oder längere Reisen auf Asphalt unter die Räder nehmen.